„Du traust dich doch eh nicht bis zum Nebeltempel.“
„Wetten doch?“
„Okay, wenn du wegrennst machst du eine Woche meine Hausaufgaben.“
„Und wenn ich dir einen Stein aus dem Tempel bringe, machst du meine Hausaufgaben einen ganzen Monat.“
Pal und Alvar spuckten sich in die Hände und schlugen ein. Angeekelt wischten sie daraufhin die Hände an ihren Hosenbeinen ab. Pal grinste und nickte zum alten Tempel, der wie immer hinter einer dichten Nebelwand ruhte. Die Leute konnten sich den Grund nicht erklären und mieden den Unheil verströmenden Ort. Nur ab und zu trafen sich kleine, naive Jungs zu einer Mutprobe am Rand des Waldes. So auch heute. Alvar kniff die Augen zusammen und versuchte im Nebel etwas zu erkennen, doch vergebens. Trotz dessen stapfte er mit entschlossenem Blick und weichen Knien in Richtung Tempel.
Schon nach 50 Metern wurde es merklich kühler. Alvar war es mulmig zumute und er fröstelte. Unsicher schaute er sich um, kein Laut war zu hören. Sogar die Vögel schienen an diesem Ort verstummt zu sein. Nur sein pochendes Herz und seinen Atem konnte er hören, der nach weiteren 50 Metern kleine, weiße Wölkchen vor seinem Mund bildete. „Nur einen einzigen Stein“, ermutigte er sich. Seine Schritte wurden langsamer, als er die Statue von einer Frau passierte, die ein lebloses Mädchen in den Armen hielt. Die Hand der Frau ruhte, das keine Herz umschließend, im Brustkorb des Mädchens. Zu Alvars Verwunderung schienen beide zu lächeln. Am Fuß der Statue lag ein vertrockneter Strauß Blumen. Ein kalter Schauer fraß sich durch Alvars Rückenmark und er wandte sich wieder seinem Ziel zu, um diesen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen zu können. Der Nebel wurde dichter und die Temperatur sank stetig. Die Knie des Jungen schlotterten, sodass er Mühe hatte, geradeaus zu laufen. Dann erblickte er das Tor. Weit offen stand es dort, wie ein Todesschlund, der Alvar geradezu magisch anzog. „Nur ein einziger, winziger Stein“, ermutigte er sich abermals und wie aus heiterem Himmel sah er ihn auch schon. Ein Stein mit der Maserung der äußeren Tempelwand lag direkt vor dem Tor. Er war perfekt. Alvar lief auf ihn zu, streckte seine zitternde Hand aus und ließ sich auf die weichen Knie fallen, um nach seinem Sieg zu greifen, doch seine kleine Hand griff in kaltes Gras. Alvar zog sie zurück und erschrak. Der Stein war weg. Verwirrt schaute er sich um. Wie war das nur möglich? Das mulmige Gefühl, das ihn schon seit seinem ersten Schritt in Richtung Tempel begleitete, breitete sich aus. Da, plötzlich erschien der Stein wieder ein paar Meter von ihm entfernt im Eingangsbereich des Tempels. Ohne darüber nachzudenken sprang er auf und durchschritt das Tor. Wieder stürzte er sich auf den Stein und wieder verschwand er durch Zauberhand, noch bevor er ihn ergreifen konnte. Dann erschien er wieder, dieses Mal noch tiefer im Inneren. Alvar sprang erneut auf, setzte zum Sprung an und hörte, wie sich das Tor hinter ihm mit einem lauten Knall schloss. Er befand sich in völliger Dunkelheit und das Schließen des Tores hallte in dem großen Gebäude nach. Sein Herz pochte, Panik stieg in ihm auf und seine Glieder wurden starr vor Angst. Verzweifelt versuchte er irgendetwas zu erkennen. Hier und da bildete er sich Konturen ein, die aber verschwanden sobald er sie direkt ansah. Das Blut rauschte in seinen Ohren und er konnte sich auf nichts mehr konzentrieren. Schwindel der Angst überfiel ihn und er ließ sich auf die Knie fallen. Dann, leise und doch ganz in seiner Nähe, hörte er Atemgeräusche, die nicht die seinen waren. „H..hallo?“ wimmerte er. Die Stimme, die ihm Antwortete kam aus der gegengesetzten Richtung. Sie gehörte einer Frau, doch haftete ihr etwas Unmenschliches an. „Was willst du hier, unschuldiges Menschenkind? Weißt du nicht, dass das hier ein gefährlicher Ort ist?“ Ein Luftzug streifte Alvars Wange und er japste. „Besonders“, fügte die Stimme hinzu „für so leckere, zarte Kinder?“ Der Junge nahm seinen ganzen Mut zusammen. „W..wer bist du?“ Wieder spürte er einen Luftzug. „Du willst wissen wer ich bin?“ Antwortete die fremde Stimme. „Ich bin ein Dämon. Genau genommen, ein Urdämon und dich, mein kleines, süßes Menschenkind...“ Eine Frauengestalt mit langen, schwarzen Haaren und Hörnern auf dem Kopf erschien im Dunkeln. Alvar traute seinen Augen kaum, als der Stein von vorhin einfach so in ihrer Hand auftauchte. „..dich habe ich hinters Licht geführt.“ Sie lächelte ihn kühl an und warf ihm den Stein entgegen. Alvar war so geschockt, dass er sich nicht bewegen konnte der Stein traf ihn mit einer solchen Wucht an der Stirn, dass er nach hinten stolperte, das Gleichgewicht verlor und mit seinem Hinterkopf am Boden aufschlug. Der Junge stöhnte auf, wimmerte vor Schmerz und sah als letztes das zufrieden grinsende Gesicht der Dämonenfrau über sich, bevor er das Bewusstsein verlor.
Do Mai 07, 2015 3:36 am HoneyTylerMoon